Hilferuf der Kreis- und Stadtspitzen an die Landesregierung

Einen tiefen Eindruck hat der Brandbrief von Landrätin Bettina Dickes und Oberbürgermeister Emanuel Letz an Ministerpräsidentin Malu Dreyer (“Dickes und Letz drohen Malu Dreyer eine Klage an” in der gestrigen Ausgabe) nicht hinterlassen. Also bei jenen Stadtrats- und Kreistagsmitgliedern, mit denen die Redaktion dieser Seite gestern gesprochen hat. Die Kritik am Land findet – auch bei Mitgliedern jener Parteien, die die Landesregierung tragen – breite Unterstützung. Aber nichtöffentlich kosten derartige Lippenbekenntnisse ja auch nichts. Genauso, wie die “Das-haben-wir-ja-schon-immer-gesagt”-Kommentare aus der CDU-Ecke.

Selbstkritische Töne waren gestern Mangelware. Dabei könnten vor allem die Stadtratsmitglieder durchaus konkrete Beiträge zu einem rechtskonformen Stadthaushalt leisten. Durch die Rücknahme bzw Korrektur von Fehlentscheidungen in der Vergangenheit. Klar ist den allermeisten: der schlichte Appell an die Ministerpräsidentin wird diese kaum zum Durchwinken der Defizithaushalte von Stadt und Kreis bewegen. Und ob Malu Dreyer nach einem jahrelangen Beratungsprozess des zum 1.1.2023 in Kraft getretenen neuen Kommunalen Finanzausgleiches (KFA) von sich aus noch einmal Änderungen vornimmt, ist höchst unwahrscheinlich.

Bleibt die Frage, was er Zweck der Übung ist. Vermutlich wird ein Jahr und zwei Monate vor der nächsten Kommunalwahl ein Schuldiger gesucht. Für all das, was die Einwohner*Innen an Defiziten und Problemen der Öffentlichen Verwaltung erleben. Die Schuldzuweisung an “die da oben” ist ein gut eingeübtes Täuschungsmanöver, um von eigenen Fehlern abzulenken. Und so erinnert der Brandbrief von Landrätin und Oberbürgermeister ein bißchen an die bewährte Taktik der “Haltet den Dieb”-Rufe. Natürlich viel besser formuliert. Und mit einigen sehr berechtigten Hinweisen. Daher im Originalwortlaut nachstehend dokumentiert:

Der Brandbrief der Landrätin und des Oberbürgermeisters an die Ministerpräsidentin im Wortlaut:

Frau Ministerpräsidentin Malu Dreyer, Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, Postfach 3880, 55028 Mainz
Neuer Kommunaler Finanzausgleich in Rheinland-Pfalz ab 01.01.2023 / Nichtberücksichtigung der Jugendhilfeausgaben der großen kreisangehörigen Städte mit eigenem Jugendamt
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Dreyer, die finanzielle Lage des Landkreises wie auch der Stadt Bad Kreuznach ist desolat. Die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) hat den Fristlauf der Genehmigungsverfahren für sehr viele Kommunalhaushalte 2023 unterbrochen, darunter auch für die Stadt und den Landkreis Bad Kreuznach.

Damit wird in Krisenzeiten der Handlungsspielraum und die Handlungsfähigkeit der Kommunen zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger über Gebühr eingeschränkt. So muss u. a. das vom Land maßgeblich entwickelte und von Stadt und Landkreis Bad Kreuznach umgesetzte ÖPNV-Konzept kurz nach seiner Einführung bereits wieder drastisch in seinen Leistungen gekürzt werden. Welches Signal löst das bei den Bürgerinnen und Bürgern aus, die auf die Zuverlässigkeit der öffentlichen Infrastruktur vertrauen?

Dringend notwendige Investitionen an Schulen und Straßen, der Bau von Wohnanlagen für Geflüchtete – all das liegt aktuell „auf Eis“, weil wir keinen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können, aus Gründen, die wir nicht zu vertreten haben (z.B. Unterbringung von Flüchtlingen, Eingliederungshilfe, Kita, ÖPNV, Lohnsteigerungen). Daher bitten wir Sie dringend darauf hinzuwirken, dass unsere Haushalte trotz der Fehlbeträge schnellstmöglich genehmigt werden. Die ADD fordert von uns eine größtmögliche Kräfteanspannung, um das Haushaltsdefizit so gering wie möglich zu planen.

Diese Kräfteanspannung lässt das Land jedoch selbst vermissen, indem es zulässt, dass die Höhe der Mittel aus dem Kommunalen Finanzausgleich (KFA) für die Stadt und den Landkreis Bad Kreuznach maßgeblich davon abhängt, ob die Stadt Bad Kreuznach als große kreisangehörige Stadt ein eigenes Jugendamt besitzt. Wäre die Stadt Bad Kreuznach nämlich nicht selbst Träger des Jugendamtes und würde der Landkreis diese Aufgabe wahrnehmen, wie es im Übrigen auch in anderen Landkreisen mit großen kreisangehörigen Städten der Fall ist, wären die KFA-Mittel im Jahr 2023 (hier: Schlüsselzuweisungen B) für den Landkreis Bad Kreuznach um ca. 9 bis 10 Mio. € höher ausgefallen, ohne dass sich selbige für die Stadt Bad Kreuznach nennenswert reduziert hätten.

Diesen Systemfehler im neuen KFA, d.h. die finanzielle Nichtberücksichtigung der Existenz der Jugendämter von großen kreisangehörigen Städten empfinden wir in höchstem Maße als ungerecht, sodass wir – Stadt und Landkreis Bad Kreuznach – beabsichtigen, gegen die Schlüsselzuweisungsbescheide 2023 Widerspruch zu erheben und danach gegebenenfalls den Klageweg zu beschreiten. Doch der Reihe nach: Seit vielen Jahren führt das strukturelle Defizit in den Haushalten von Landkreis und Stadt Bad Kreuznach dazu, dass freiwillige Ausgaben nur in ganz beschränktem Maße erfolgen können.

Vorhaben, freiwillige Leistungen zu erhöhen, wurden auch in der Vergangenheit durch die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion in aller Regel unterbunden oder an Kompensationsmaßnahmen geknüpft. Schon diese Situation, keine wirklichen Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen freiwilliger Ausgaben vornehmen zu können, lässt das Recht der kommunalen Selbstverwaltung hinterfragen. Aber: Wir haben uns damit insbesondere auf Ebene des Landkreises abgefunden und arrangiert.

Unter der aktuell ausbleibenden Genehmigung der beiden (defizitären) Haushalte von Stadt und Landkreis leiden notwendige, aber nicht unabweisbare Maßnahmen, wie etwa Sanierungen von Schulen oder Baumaßnahmen in Kitas, Anschaffungen für den Brand- und Katastrophenschutz oder andere Investitionen in die Infrastruktur – zu Lasten unserer Einwohnerinnen und Einwohner. Zugleich führen die Auflagen, die zur Genehmigung des Haushalts erfüllt werden sollen, zu Handlungsunfähigkeiten. Als Beispiel nennen wir die große Herausforderung, geflüchtete Menschen in unseren Kommunen unterzubringen.

Wie Sie wissen, fehlt an allen Ecken und Enden bezahlbarer Wohnraum. Wegen dieser schier unlösbaren Problematik plant der Landkreis die Errichtung von temporären Wohnanlagen in Modulbauweise. Mangels Haushaltsgenehmigung ist es nicht möglich, dieses Vorhaben weiterzubringen. Im Ergebnis steht eine zu erwartende weitere Zuspitzung der Unterbringungsproblematik. Auch der zuletzt vorgenommene Ausbau des ÖPNV-Angebots leidet unter den Restriktionen. So muss möglicherweise der eigentlich vorgesehene 20-Minuten-Takt in der Stadt Bad Kreuznach um 1/3 gekürzt werden.

Die Stadt muss möglicherweise die Therme schließen mit dem damit verbundenen Aus für die Kur und den Nachteilen für den Tourismus. Und auch der dringend notwendige Neubau einer Grundschule ist gefährdet. Die rein exemplarischen, aber weitreichenden Folgen legen dar, wie sehr uns diese Haltung der ADD in unserer Handlungsfähigkeit einschränkt. Unser Ziel war und ist es, die Haushaltsgenehmigung zu erreichen – jedoch zu welchem Preis? Die ADD fordert von uns, das Haushaltsdefizit deutlich zu verringern.

Im Ergebnis bedeutet dies, Ausgaben zu streichen und die Einnahmesituation zu verbessern. Insbesondere vor dem bereits skizzierten Webfehler im neuen Kommunalen Finanzausgleich wirkt dies haarsträubend. Denn durch die Neuregelung im KFA fehlen dem Landkreis bis zu 10 Mio. € an Zuweisungen, obwohl die Stadt Bad Kreuznach 5 Mio. € an Mehrausgaben zu tätigen hat, da diese ihr eigenes Jugendamt unterhält. Sind dem Land die Jugendämter der großen kreisangehörigen Städte weniger Wert als die Jugendämter der Landkreise?

Zu diesem Schluss muss man kommen, denn durch den Wegfall des Mehrbetrages zu den bisherigen Schlüsselzuweisungen B1 für große kreisangehörige Städte mit eigenem Jugendamt (30 € je Einwohner) werden diese Städte im neuen KFA jenen großen kreisangehörigen Städten ohne eigenem Jugendamt finanziell gleichgestellt. Es kann doch nicht sein, dass bei der Berechnung der Schlüsselzuweisungen vom Gesetzgeber ein Unterschied gemacht wird, ob die Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe ausschließlich vom Landkreis (z.B. Landkreis Mainz-Bingen mit den großen kreisangehörigen Städten Bingen und Ingelheim) oder aber vom Landkreis und einer großen kreisangehörigen Stadt (Landkreis und Stadt Bad Kreuznach) wahrgenommen werden.

Mit anderen Worten: Sollte die Stadt Bad Kreuznach ihr Jugendamt an den Landkreis Bad Kreuznach abgeben, hätte dies so gut wie keine Auswirkungen auf die Höhe ihrer Schlüsselzuweisungen B. Gleichzeitig könnte die Stadt Bad Kreuznach dadurch ca. 5 Mio. € im Jahr einsparen. Der Landkreis Bad Kreuznach, der die Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe im Stadtgebiet übernehmen müsste, könnte seine Mehrausgaben im Rahmen des KFA geltend machen und würde deutlich höhere Schlüsselzuweisungen B erhalten.

Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass die Ausgaben der Jugendhilfe im Rahmen des neuen KFA ab 01.01.2023 deutlich stärker berücksichtigt werden als dies noch im alten KFA der Fall war. In Summe wären die Haushalte von Stadt und Landkreis Bad Kreuznach dadurch um jährlich ca. 9 bis 10 Mio. € entlastet. Wir sind weit davon entfernt, hier eine bewusste Ungleichbehandlung zu attestieren, erwarten jedoch, dass diese Fehlstellung behoben und zugleich die ADD der Aufforderung, unsere öffentlichen Haushalte zu genehmigen, kurzfristig nachkommen wird.

Um eine etwaige Klage abzuwenden, wiederholen wir daher noch einmal unsere Bitte eines Gesprächstermins mit Ihnen und allen beteiligten Ministerien, um Ihnen die Problematik näher erläutern zu können. In Erwartung Ihrer zeitnahen Antwort verbleiben wir mit freundlichen Grüßen Bettina Dickes (Landrätin) und Emanuel Letz (Oberbürgermeister)

In Abdruck an beigefügte Verteilerliste:
Herrn Staatsminister Michael Ebling, Ministerium des Innern und für Sport, Schillerplatz 3-5, 55116 Mainz

Frau Staatsministerin Doris Ahnen, Ministerium der Finanzen, Kaiser-Friedrich-Str. 5, 55116 Mainz

Frau Staatsministerin Katharina Binz, Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration, Kaiser-Friedrich-Straße 5 a, 55116 Mainz

Herrn Präsidenten Jörg Berres, Rechnungshof Rheinland-Pfalz, Gerhart-Hauptmann-Straße 4, 67346 Speyer

Herrn Präsidenten Thomas Linnertz, Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion, Willy-Brandt-Platz 3, 54290 Trier

Landkreistag Rheinland-Pfalz, Deutschhausplatz 1, 55116 Mainz

Gemeinde- und Städtebund Rheinland-Pfalz, Deutschhausplatz 1, 55116 Mainz

Städtetag Rheinland-Pfalz, Deutschhausplatz 1, 55116 Mainz

Abgeordnete des Landtages Rheinland-Pfalz der Wahlkreise Bad Kreuznach und Kirn / Bad Sobernheim: Dr. Herbert Drumm, Philipp Fernis, Dr. Helmut Martin, Michael Simon, Markus Stein

Mitglieder des Kreistages des Landkreises Bad Kreuznach
Mitglieder des Stadtrates der Stadt Bad Kreuznach
Presse

Aufforderung zum Rechtsbruch ist der falsche Weg
Die Meinung unseres Redakteurs
Claus Jotzo

Kreis und Stadt stecken mitten in einer veritablen Finanzkrise. Die ADD hat beiden kommunalen Gebietskörperschaften die Etatgenehmigung verweigert. Vollkommen zu recht. Denn beide Haushalte für 2023 sind leicht erkennbar rechtswidrig. In diesem Jahr erbrachte Leistungen werden auf Pump finanziert. Nachfolgenden Generationen wird so der Handlungsspielraum beschnitten. Ursache der Misere: weil unsere Kommunalpolitiker*Innen nicht nein sagen können. Und weil es an Fachkompetenz und einem klaren Blick auf die Lebensrealität fehlt.

Natürlich trifft zu, dass das Land und der Bund den Kommunen Aufgaben abverlangen, ohne die dafür nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen. Richtig ist aber auch: sowohl im Kreis als auch in der Stadt werden Millionenbeträge verplempert. Beispiel ÖPNV. Obwohl vom Land noch heute keine belastbare Zusage für Zuschüsse vorliegt, haben sich Kreis und Stadt bereits vor zwei Jahren hemmungslos in das Abenteuer Kommunalisierung des Busverkehrs gestürzt. Und dabei – ohne einen Cent in der Tasche – die ganz große Lösung realisiert.

Die Folge: seit Monaten fahren leere Busse durch Stadt und Kreis. Und ein Millionendefizit ein. Hier hätte allein die Stadt von Anfang Millionen Euro im Jahr sparen können. Mehr als die Hälfte des aktuellen Haushaltsdefizites. Beim Jugendamt ist zwar das Land für das Desaster verantwortlich. Aber: warum hat die Stadt nicht längst gegen die krass ungerechte Regelung geklagt? Warum wurden Landtagsbeschlüsse, die ein Ausbluten der Stadtfinanzen bewirken, nicht längst massiv politisch angegriffen?

Und juristisch? Der vorgestern veröffentlichte Brandbrief an Malu Dreyer ist ein Offenbarungseid von Landrätin und OB. Die an die Ministerpräsidentin gerichtete Aufforderung, die Defizithaushalte durchzuwinken, ist nichts anderes als der öffentliche Aufruf zum Rechtsbruch. Das macht deutlich: auch Bettina Dickes und Emanuel Letz wollen sich immer noch nicht der Realität stellen. Diese ist: ein wesentlicher Teil der finanziellen Probleme – zumindest der Stadt – sind hausgemacht.

Das Gesetz schreibt den Haushaltsausgleich nicht einfach nur so als Selbstzweck vor. Sondern es schützt damit die Interessen der nachfolgenden Generationen. Unserer Kinder und Enkelkinder. Die können sich, etwa wegen fehlenden Stimmrechts bei Wahlen, gegen Fehlentscheidungen heute zu Lasten ihrer Zukunft nicht wehren. Damit ist die Pflicht zu ausgeglichenen Kommunalhaushalten genau so wichtig, wie nachhaltiger Klimaschutz. Leider hat ein Teil der Klimaschützer das bisher nicht verstanden:

Wenn wir jetzt (Achtung: Übertreibung) alles kaputtmachen, das Land deindustrialisieren und die Schulden in die Höhe treiben, dann gibt es in der in 50 Jahren so geretteten Umwelt keine Gesellschaft mehr, die demokratischen und modernen Ansprüchen genügt. Gefunden werden muss ein Weg, auf dem Gesellschaft und Umwelt gleichzeitig gerettet werden.