Dr. Kaster-Meurer will Videokonferenz statt Präsenzsitzung

Von unserem Redakteur
Claus Jotzo

Am 11.11. um 11.11 Uhr startete die närrische Jahreszeit. Wie in den Vorjahren wieder mitten im Geschehen: Oberbürgermeisterin Dr. Kaster-Meurer. Weil die Coronakrise ihr in diesem Jahr den großen Auftritt mit und vor Dutzenden von Narren verhindert, hat sie sich etwas anderes einfallen lassen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Am Nachmittag des närrischen Tages verläßt eine Email das Stadthaus, in der nicht Fastnachter, sondern Ausrufezeichen zu Rudeltieren mutieren.

“Hinweis!!!”

Im Auftrag der OBin schickt Lukas Wirz vom Hauptamt die Einladung für die Sitzung des Hauptausschusses am kommenden Montag. Garniert mit einem “Hinweis!!!”, der es in sich hat: “bitte beachten Sie, dass die Sitzung per Videokonferenz abgehalten wird. Weitere Infos hierzu finden Sie unten im Text”. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die die meisten Empfänger der Email nunmehr dieser Nachricht aus dem Stadthaus entgegenbringen, nutzt Wirz zu folgenden Hinweisen: “Der Link zur Videokonferenz lautet: … Sie können der Konferenz an Ihrem Smartphone, Tablet oder PC beitreten.

“Werden wir Ihnen die Handbücher zukommen lassen”

Der Konferenzraum ist ab 17:15 Uhr geöffnet. Bitte denken Sie daran, nach Eintritt in den Konferenzraum ihr Mikrofon auf stumm und die Wiedergabe auf “on” zu schalten. Die Einstellungen finden Sie unter Audio. Den Link für den nichtöffentlichen Teil und das dazugehörige Passwort übersenden wir Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt. In einer zweiten Mail werden wir Ihnen die Handbücher zukommen lassen. Zudem möchten wir am Freitagnachmittag einen Probelauf mit Ihnen durchführen. Hierzu werden in den nächsten Tagen noch weitere Infos folgen”.

Kein Fastnachtsscherz

Nachfragen mehrerer Ausschußmitglieder im Hauptamt machen deutlich: bei der Email handelt es sich nicht um einen Fastnachtsscherz. Vielmehr möchte die Verwaltung allen Ernstes nach acht Monaten Erfahrung im Umgang mit der Pandemie von Präsenz- zu virtuellen Sitzungen übergehen. Einfach so. Ohne Beratung und Beschlußfassung in den Gremien. Am Donnerstagmittag bittet die Redaktion dieser Seite um Mitteilung der Rechtsgrundlage für die Videokonferenz des Hauptausschusses. Noch am selben Tag, also erfreulich schnell, kommt die Antwort.

“Bei Naturkatastrophen oder Notsituationen”

Die Stadtverwaltung stützt sich bei ihrer Vorgehensweise auf § 35 Abs. 3 der Gemeindeordnung. Dort ist normiert: “bei Naturkatastrophen oder sofern andere außergewöhnliche Notsituationen dies erfordern, dürfen Beschlüsse in einem schriftlichen oder elektronischen Umlaufverfahren oder mittels Video- oder Telefonkonferenzen gefasst werden, wenn bei Umlaufverfahren kein Ratsmitglied einem solchen Verfahren widerspricht und bei Video- oder Telefonkonferenzen zwei Drittel der gesetzlichen Zahl der Ratsmitglieder einem solchen Verfahren zustimmt.

Feststellung einer Ausnahmesituation erfolgte

Absatz 1 Satz 3 gilt entsprechend. Die Feststellung einer Ausnahmesituation und eines Erfordernisses im Sinne von Satz 1 bedarf der Zustimmung der zuständigen Aufsichtsbehörde”. Wer sich die Zeit genommen hatte und am vergangenen Mittwoch der Sitzung des Jugendhilfeausschusses beiwohnte, konnte dort – zusammenhanglos und ohne nähere Erklärung – den Hinweis der Oberbürgermeisterin vernehmen, demzufolge die Aufsichtsbehörde eine solche Ausnahmesituation festgestellt habe.

Erheblicher Widerstand gegen die Videokonferenz

An der Sitzung nahmen aber nur sechs der 45 Stadtratsmitglieder teil, eine erhellende Information wurde nicht gegeben und eine Abstimmung darüber, ob die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker diese Vorgehensweise unterstützen, fand selbstredend nicht statt. Am Donnerstag und Freitag fanden dann unzählige inner- und interfraktionelle Gespräche statt. Und es stellt sich heraus, dass in mehreren Fraktionen zum Teil erheblicher Widerstand gegen die Videokonferenz besteht. Dieser Widerstand formte sich gestern Abend dann in offenen Protest aus (siehe gesonderten Bericht).

“Von Angesicht zu Angesicht”

Von unserem Redakteur
Claus Jotzo

Die handstreichartige Umwandlung des für kommenden Montag eingeladenen Hauptausschusses von einer Präsenzsitzung zu einer Videokonferenz wollen sich mehrere Fraktionen, Ausschuß- und Stadtratsmitglieder nicht einfach so gefallen lassen. Die Protestwelle eröffnete CDU-Fraktionsvorsitzender Manfred Rapp am späten Freitagnachmittag mit einer Presseerklärung (zu dieser erfolgt noch ein gesonderter Bericht). Am Ende der inhaltsschweren Mitteilung stehen die Feststellungen, mit denen Rapp sich zum Wortführer jener großen Zahl von Menschen macht, die die schlimmste Folge der Pandemie in der dramatischen Reduzierung sozialer Kontakte erkennen:

Manfred Rapp: Präsenzsitzung möglich und notwendig

“Aus unserer Sicht wird die Behandlung dieser Fragen in einer rein digitalen Form der Wichtigkeit und der Ernsthaftigkeit des gesamten Themas nicht gerecht. Sie wissen, dass eine Präsenzsitzung auch in dieser Corona-Zeit möglich – und auch notwendig ist”, stellt der CDU-Fraktionsvorsitzende fest. Um dann für sich persönlich festzustellen: “Ich widerspreche hinsichtlich der Sitzungen des Stadtrates Bad Kreuznach und seiner Ausschüsse einem schriftlichen oder elektronischen Umlaufverfahren.

Widerspruch gegen Video- oder Telefonkonferenzen

Ich widerspreche hinsichtlich der Sitzungen des Stadtrates Bad Kreuznach und seiner Ausschüsse der Durchführung von Video- oder Telefonkonferenzen. Ich bestehe auf Präsenzsitzungen und sehe derzeit keine “Naturkatastrophe oder sofern andere außergewöhnliche Notsituation”. Manfred Rapp weist damit den Weg, wie die ohne jede Beratung und Abstimmung durch Ausschuß oder Stadtrat allein von der Oberbürgermeisterin verfügte Videokonferenz samt Beschlußfassung im Umlaufverfahren abgewendet werden kann.

Beschluß im Umlaufverfahren ist bereits vom Tisch

Allein durch seinen Widerspruch ist die Beschlußfassung per Unterschrift im Umlaufverfahren bereits vom Tisch. Und der erste Schritt gegen den Alleingang der Dr. Kaster-Meurer gesetzt. Zwar sagt die Gemeindeordnung wörtlich, dass eine Video- oder Telefonkonferenz nur dann möglich ist, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Zahl der Ratsmitglieder (analog Ausschußmitglieder) einem solchen Verfahren zustimmt. Aber eine Abstimmung fand bisher nicht statt. Und ist laut OBin für Montag auch nicht vorgesehen. Daher hat Manfred Rapp den einzigen rechtssicheren und schnellen Weg zur Verhinderung der Videokonferenz eingeschlagen.

7 von 19 können Videokonferenz verhindern

Statt abzuwarten, bis sich am Montag – wie auch immer – keine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Videokonferenz in der Videokonferenz findet (wobei vor Gericht später allein die Teilnahme an der Videokonferenz als konkludente Zustimmung zu dieser Beratungsform gewertet werden könnte) erklärt Rapp ausdrücklich seinen Widerspruch. Finden sich noch sechs weitere Ausschußmitglieder, die eine entsprechende Erklärung abgeben, muß die Sitzung als Präsenzsitzung stattfinden. Denn dann ist die vom Gesetz als Bedingung gestellte Zwei-Drittel-Hürde im Hauptauschuß, dem 19 Personen angehören, nicht mehr zu erreichen.

Thomas Wolff: was hat sich geändert?

Und es sieht ganz so aus, als würde es genau so kommen. Denn kurz nach Manfred Rapp hat sich auch Thomas Wolff zu Wort gemeldet. Der AfD-Fraktionsvorsitzende erinnert die OBin zunächst daran, dass in der abgelaufenen Woche eine Reihe von Präsenz-Sitzungen stattfanden: “unter anderem tagte der Jugendhilfeausschuss, deren Vorsitzende Sie sind, und der Aussichtsrat der Stadtwerke tagte ebenso”. Um dann die entscheidende Frage aufzuwerfen: “Was genau hat sich geändert, dass ab der 47. Kalenderwoche Sitzungen per Videokonferenz abgehalten werden müssen?”

Bitte um “rational nachvollziehbare Erklärung”

Thomas Wolff, der auch Mitglied des Kreistages ist, weist dann darauf hin, dass am kommenden “Montag, den 16.11.2020 ab Uhr 14.30, die Sitzung des Kreisausschusses stattfindet”. Als Präsenzsitzung. Abends solle aus Corona-Schutzgründen der Hauptauschuß per Videokonferenz tagen. Und dann spitzt Wolff diesen Widerspruch auf eine Frage zu: “Gibt es im engeren Stadtgebiet von Bad Kreuznach unterschiedliche, gleichzeitig stattfindende „außergewöhnliche Notsituationen“? Wolff bittet hierzu um eine “rational nachvollziehbare Erklärung”.

Auch AfD widerspricht

Zumal Kindertagesstätten, Schulen und viele andere öffentliche Einrichtungen weiterhin geöffnet seien, “natürlich unter Beachtung der bewährten Schutzmaßnahmen”. Von daher sehe die AfD-Fraktion “keine Notwendigkeit auf eine Präsenzsitzung unter Beachtung der bisher bewährten Schutzmaßnahmen zu verzichten”. Und dann widersprich auch Thomas Wolff “hinsichtlich der Sitzungen des Stadtrates Bad Kreuznach und seiner Ausschüsse der Durchführung per Video- oder Telefonkonferenzen” und “hinsichtlich der Sitzungen des Stadtrates Bad Kreuznach und seiner Ausschüsse einem schriftlichen oder elektronischen Umlaufverfahren”.

Karl-Heinz Delaveaux: “so geht das nicht”

Am späten Freitagabend reihte sich dann auch Karl-Heinz Delaveaux in die Phalanx der Video-Gegner ein. Anders als Rapp führt der Fraktionsvorsitzende von FWG / BüFEP keine komplexen Sachargumente an. Und abweichend von Wolff stellt Delaveaux auch keine Fragen. Sondern kommt direkt zur Sache: “sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, so geht das nicht. Sie können nicht einfach ohne jede Absprache den Hauptausschuß als Videokonferenz einladen. Die Pandemie plagt uns seit acht Monaten. Es war ausreichend Zeit, um zu besprechen, was wir in welcher Situation machen. Sie haben zu keinem Zeitpunkt eine Aussprache über Video-Sitzungen ermöglicht”.

“Unnötig übers Knie gebrochen”

Delaveaux erweist sich dann als interessierter Beobachter der EU-Politik und bezieht sich auf den früheren Chef der Kommission Jean Claude Juncker, der sich “ganz klar gegen Videokonferenzen ausgesprochen hat”. Dieser Mann habe einen großen Teil seines Lebens in Sitzungen verbracht und wisse daher, von was er spricht. Die “ganze Verfahrensweise ist unnötig übers Knie gebrochen und paßt nicht zu unserer Situation”. Auch im Namen seines Fraktionskollegen Wilhelm Zimmerlin teilt Delaveaux der Oberbürgermeisterin mit:

FWG / BüFEP: auf demokratische Traditionen nicht verzichten

“Wir lehnen Beschlüsse, Entscheidungen usw in einem mündlichen, schriftlichen oder elektronischen Umlaufverfahren ab. Wir lehnen Sitzungen des Stadtrates Bad Kreuznach und seiner Ausschüsse als Video- oder Telefonkonferenzen ab. Wir verlangen die Durchführung von Präsenzsitzungen”. Abschließend stellt das erfahrene Stadtratsmitglied fest: “wir sehen gar keine Begründung in der Sache auf gute und erfolgreiche demokratische Traditionen zu verzichten. Dazu gehört für uns die Entscheidungsfindung von Angesicht zu Angesicht mit allen anderen Entscheidungsträgern”.

Locher hat keine Einwände:

Um auch eine die Oberbürgermeisterin unterstützende Wortmeldung zu erhalten, hat die Redaktion dieser Seite gestern Abend bei Jürgen Locher nachgefragt, wie die von ihm geführte Fraktion “Die Linke” zu dem Videoprojekt steht. Locher hat “keine grundsätzlichen Einwände” und hält die Idee für “einen Versuch wert”. Sein Argument: “was machen wir, wenn die Coronalage im nächsten Januar noch schlimmer wird?”

Kommentar des Redakteurs, der seit über 30 Jahren Gewerkschaftsmitglied ist:

Die Antwort könnte Jürgen Locher bei dem Personenkreis finden, für den er sich politisch einsetzt: Arbeitnehmer*Innen. In der Privatwirtschaft, zum Beispiel an Aldikassen, konnten und können diese sich nicht hinter abgeschlossenen Verwaltungstüren oder in Videokonferenzen verstecken. Die müssen sich tagtäglich von morgens bis abends der Infektionsgefahr aussetzen, um für den Rest der Gesellschaft deren Wohlbefinden zu ermöglichen. Solidarität mit diesen Werktätigen bedeutet für mich zusätzlich zur Einhaltung der AHA+L-Regeln, für mich persönlich keinen weiteren Schutz zu organisieren.

Bedeutender als perfekter Coronaschutz

Auch nicht auf Termine zu verzichten. Oder eher zu gehen. Sondern zu zeigen, dass gesellschaftliches und politisches Leben wertvoller und bedeutender ist, als der perfekte Coronaschutz. Daher habe ich im Jahr 2020 noch an keiner einzigen Videokonferenz teilgenommen. Und ich werde das auch nicht tun, wenn diese mit einer verlogenen Coronaschutz-Behauptung angeboten wird. Denn tatsächlich geht es der Oberbürgermeisterin nicht um Coronaschutz. Das kann man beispielsweise leicht daran erkennen, wie Dr. Kaster-Meurer Sitzungen leitet.

Im Stadtrat streng reguliert …

Die des Stadtrates im Oktober mit kaum doppelt so viel Anwesenden in einem ungleich größeren und mehrfach höheren Saal wurde von der OBin (ohne demokratische Abstimmung vorab) so krass reglementiert, dass u.a. dem Fraktionsvorsitzenden der mit Abstand größten Fraktion CDU ein Redebeitrag verhindert werden sollte. Fraktionen mit zwei und mit 12 Mitgliedern wurden – grundgesetzwidrig – gleichgestellt. Im Stadtrat ging es um wegweisende Themen. Über diese sollte so wenig wie möglich gesprochen werden.

… im Jugendhilfeausschuß frei Schnauze

Als der weniger als halb so große Jugendhilfeausschuß am vergangenen Mittwoch im wesentlich kleineren und niedrigeren Sitzungssaal der Stadt tagte, durften die Redner*Innen bis zu sieben Mal bei einem Tagesordnungspunkt das Wort ergreifen. Ohne jede Fraktionslimitierung und Redezeitbeschränkung. Es gab nicht eine einzige Ermahnung durch die OBin. In der Sitzung ging es eher um Formalien. Wer an Fakten interessiert ist, könnte auch mit einem Blick in hunderte von Schulklassen in Stadt und Kreis wertvolle Informationen erhalten.

Kastration der politischen Diskussion

Dort sitzen bis zu 30 Schüler*Innen (also deutlich mehr als in den Ausschüssen der Stadt) mit weniger Abstand vier bis sieben Stunden am Tag zusammen. Bis gestern wurde trotzdem nicht eine einzige Coronainfektion in einem Klassenraum nachgewiesen. Daher steht für mich fest: natürlich bevorzugt Dr. Kaster-Meurer Videokonferenzen nicht, weil der Coronaschutz so besser erfolgen kann. Sondern weil dieses Format nichts anderes darstellt, als eine Kastration der politischen Diskussion. Da sie die schlechteren Argumente hat, hilft ihr jede Verkürzung.