Valeryan Ryvlin zum 9. November

Gastbeitrag von
Valeryan Ryvlin

Am 9. November denken wir in Bad Kreuznach, denken Menschen in ganz Deutschland und in aller Welt an furchtbare Verbrechen, an die systematische Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Am 9. November denken Millionen Menschen in ihrem Leben an Gewalt, Verfolgung und Verlust. Menschen denken an ihre Angehörigen, die sie verloren haben, viele denken an die schlimmste Zeit in ihrem eigenen Leben. Die Zahl der rechtsextrem motivierten Straftaten weltweit und in Deutschland hat in den letzten Jahren zugenommen und nimmt weiter zu.

Leider gibt es auch heute Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus in unserem Land, aber Antisemitismus ist nicht nur unser Problem. Antisemitismus, wie sie alle sehen, ist auch das Problem der nichtjüdischen Gesellschaft. Die zunehmenden radikalen Tendenzen bereiten uns Sorge. Auch im Zuge der Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen wurden immer wieder antisemitische Ressentiments sichtbar, wenn beispielsweise Verschwörungsmythen vorgebracht werden, die einen deutlichen antisemitischen Ursprung haben.

Das Phänomen Antisemitismus hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Neben dem „klassischen“ Antisemitismus sind immer wieder auch „sekundärer“ und „israelbezogener“ Antisemitismus sichtbar. Die beiden letzteren finden derzeit eine größere Verbreitung. Den unterschiedlichen Formen des Antisemitismus liegen jeweils andere Motivationen und Strategien zugrunde. Diese in der Gesellschaft verbreiteten antisemitischen Einstellungen, führen immer wieder zu antisemitischem Handeln auch in Form von Straf- und Gewalttaten.

Dass wir heute als Juden uns Sorgen um unsere eigene Sicherheit machen müssen und dass unsere Gebetshäuser sowie Gemeinden von Sicherheitsleuten und von der Polizei bewacht werden, ist eine traurige Realität. Zur Integration neu zugewanderter Flüchtlinge gehören nicht nur die Jobaufnahme und der Deutschunterricht. Eine erfolgreiche Integration bedeutet unter anderem auch, dass die Neu-Zugewanderten das Judentum in Deutschland als untrennbaren Teil der deutschen Gesellschaft verstehen und akzeptieren lernen.

Christen, Juden und Muslime verbindet der Glaube an den einen Gott und wir alle tragen Verantwortung. Daher sollten wir im Gespräch bleiben, sich an unsere gemeinsamen Wurzeln erinnern und gemeinsam ihre Stimme erheben, wenn Minderheiten ausgegrenzt und diffamiert werden, wenn Neonazis Ausländerfeindlichkeit schüren oder wenn radikale muslimische Hassprediger die Religion für ihre Zwecke missbrauchen. Christen und Juden haben eine gemeinsame Geschichte. Und gemeinsam mit Moslems und allen anderen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bilden wir die Weltgemeinschaft.

Akzeptanz und Toleranz, Freundschaft und Partnerschaft, dies sind Dinge, die alle Menschen auf dieser Welt benötigen. Lassen Sie uns im Interesse des friedlichen Zusammenlebens, das in Bad Kreuznach bisher glücklicherweise seit vielen Jahren gut gelingt, weiterhin gemeinsam daran arbeiten. Diese Normalität ist zum Beispiel dann erreicht, wenn bei der Gedenkfeier hier in Bad Kreuznach und an den vielen Synagogen in Deutschland, am Shabbat oder Feiertagen, in die jüdische Schulen und Kindereinrichtungen keine Polizei mehr notwendig sein wird. Daran müssen wir alle zusammen arbeiten.

Das ist es wert und unsere große Aufgabe für die Zukunft. Der Holocaust, Shoah, darf nicht nur Geschichte sein, es muss immer mit uns Menschen bleiben, mit unsere Kinder und folgende Generationen. Wir erinnern uns an unseren Toten und denken an die lebenden und sagen Lehaim für das Leben. Wir bleiben jedenfalls Optimisten und möchten daran glauben, dass die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, in Rheinland-Pfalz und hier in Bad Kreuznach gesichert bleibt und dass die schrecklichen Tage endgültig der Vergangenheit angehören. Schalom und Friede für uns alle.

Valeryan Ryvlin ist der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Bad Kreuznach-Birkenfeld