„‘Nie wieder‘ darf keine Floskel sein“

Bei der Gedenkveranstaltung des Landtags aus Anlass des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2024 standen in diesem Jahr die von den Nationalsozialisten als sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichneten Opfer des deutschen Terrorregimes im Mittelpunkt. Landtagspräsident Hendrik Hering verwies in seiner Ansprache auf geschichtliche Parallelen und rief dazu auf, im persönlichen Umfeld gegen Hass, Rassismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit einzutreten. Hendrik Hering erinnerte daran, dass sich damals unter dem ausdrücklichen Beifall der Öffentlichkeit die Entrechtung von Menschen abgespielt habe, die seit je auf der Schattenseite des Lebens und am Rande der Gesellschaft standen.

Von Menschen, die als Außenseiter, als Geächtete, galten. „An sie, an die Verleugneten und Vergessenen, wollen wir heute zum ersten Mal ausführlich erinnern.“ Ihr Schicksal sei kaum erfasst oder zusammenhängend erforscht. „In Worten und Haltungen sehen wir heute mit erschreckender Klarheit die Parallelen zwischen den Nationalsozialisten von damals und den Rechtsextremisten von heute: Demokratieverachtung, Verschwörungslügen, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, Hass auf Minderheiten bis hin zu Deportationsphantasien. All das lässt erahnen, wie schnell demokratische Errungenschaften, die wir für gefestigt halten, verloren gehen können“, sagte Hendrik Hering.

Er betonte, dass durch „Vertuschen“ und „Verdrängen“ der Nazi-Zeit in der Nachkriegsgeneration das menschenverachtende Gedankengut in Teilen der Gesellschaft erhalten geblieben sei. „Wenn wir dieser Tage lesen müssen, dass sich heute in Deutschland wieder Menschen treffen – unter ihnen Mandatsträger – um die Vertreibung und Deportation von Millionen Menschen zu planen, sehen wir: das Gift der Nazis war nie weg, das Unsagbare ist wieder sagbar geworden. Es findet Zustimmung in Teilen von Politik und Gesellschaft“, mahnte der Landtagspräsident. Man dürfe sich nicht von beschönigenden Umschreibungen täuschen lassen. Wenn von „Remigration“ die Rede sei, meine dies „Deportation“ von allen, die ihnen nicht passten, egal ob sie Deutsche sind oder nicht.

„Vor dem Faschismus ist niemand sicher“, so Hendrik Hering. Es liege jetzt an uns, nicht zuzulassen, dass es wieder geschieht. Ausdrücklich lobte Hendrik Hering die vielen Hunderttausende, die seit Tagen auf die Straße gingen, um die Demokratie zu schützen und um für Zusammenhalt und Menschlichkeit einzustehen. Auch die demokratischen Parteien seien aufgefordert, zusammenzustehen und ein konstruktives, lösungsorientiertes Miteinander zu finden. Der nächste Schritt, von der Straße in den Alltag der Menschen, werde jedoch weit schwieriger. Jeder Einzelne sei in seinem persönlichen Umfeld gefragt, „Nein“ zu Hass gegenüber Jüdinnen und Juden, Migrantinnen und Migranten, zu Ausgrenzung und Geschichtsvergessenheit zu sagen.

„Nie wieder dürfen wir in Deutschland – nie wieder dürfen wir Deutsche – zulassen, dass so etwas geschieht. Nie wieder, das darf keine Floskel sein, niemals“, betonte Hendrik Hering. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Katharina Binz sagte: „Es ist an der Zeit, für die Demokratie aufzustehen und sich klar zu den Werten zu bekennen, auf denen unsere Demokratie aufgebaut ist. Es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse – weder in Rheinland-Pfalz noch sonst irgendwo auf der Welt. Antidemokratische, rassistische und intolerante Kräfte in unserer Gesellschaft wollen unsere freiheitlichen Grundwerte unterwandern. Sie wollen unsere Gesellschaft spalten, Feindbilder schaffen und Menschen ausgrenzen.

Dem gilt es sich entgegenzustellen. Denn: ‚Nie wieder‘ heißt zu widersprechen, wenn wir antisemitische oder rassistische Aussagen hören. ‚Nie wieder‘ bedeutet, sich den lauter werdenden Feinden der Demokratie und einer offenen, vielfältigen Gesellschaft entgegenzustellen. Hunderttausende haben in den vergangenen Tagen und Wochen gezeigt, dass Deutschland eine wache und starke Zivilgesellschaft hat. Denn ‚Nie wieder‘ ist jetzt!“ Im Zentrum des diesjährigen Gedenkens standen erstmals jahrzehntelang verleugnete Opfer­gruppen der nationalsozialistischen Diktatur. Sie wur­den als „asozial“ oder „Berufsverbrecher“ bezeichnet und verfolgt, weil sie in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ keinen Platz hatten.

Es betraf vor allem Menschen wie Arbeits- und Wohnungslose, Bettler, Fürsorge­empfängerinnen und -empfänger, Prostituierte, unan­gepasste Jugendliche, aber auch Sinti und Roma. Ein Zeitzeuge der zweiten Generation aus der Pfalz, Alfons Ludwig Ims, Verfasser des Buches „Meine asoziale Pfälzer Familie“ berichtete über die Lebensgeschichte seiner Familie während der Nazi-Zeit und auch danach. Sie wurden von den Nazis als „Untermenschen“ klassifiziert, sein Vater als „asozial“ tituliert. Alfons Ludwig Ims sagte: „Würde ich mich schämen, weil mein Vater von den Nazis als „asozial“ und „moralisch minderwertig“ angesehen und behandelt wurde oder weil meine Brüder nicht lesen und schreiben konnten – worauf würde sich diese Scham beziehen?

Auf die Nazis und wäre somit Fremdschämen für deren menschenverachtende Politik? Das ist fehl am Platz – Empörung ist wesentlich angebrachter. Oder bezieht sie sich auf den „asozialen“ Vater bzw. die „angeboren schwachsinnige“ Brüder? Dann verschwinden aber nicht nur die Begründungszusammenhänge, sondern ich würde die Normvorstellungen der Nazis übernehmen.“ Der Sozialwissenschaftler und ebenfalls Zeitzeuge der zweiten Generation, Professor Frank Nonnenmacher, nahm eine historische Einordnung vor. Auf Initiative Nonnenmachers hatte der Deutsche Bundestag die Opfergruppe der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt.

Nonnenmacher erklärte, dass nach dem Ende des Faschismus die deutsche Bevölkerung den ehemaligen KZ-Häftlingen keineswegs durchweg mit Sympathie begegnet sei. „Entsprechend mussten in der Bundesrepublik zum Beispiel auch Homosexuelle und die Volksgruppe der Sinti und Roma lange kämpfen, um als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt werden“. Erst mit dem Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020 – nachdem die meisten Betroffenen nicht mehr lebten – sei unmissverständlich und ohne jedes Wenn und Aber klargestellt worden, zitierte Nonnenmacher wie folgt: „Kein Mensch war zu Recht im KZ, auch Menschen mit dem schwarzen und dem grünen Winkel nicht.“ An der Veranstaltung wirkten auch Schülerinnen und Schüler des Mons-Tabor-Gymnasiums Montabaur mit.

Diese trugen die Biografien von Opfern des Nazi-Regimes aus dem Westerwald vor und erinnerten an deren Schicksal. Musikalisch begleitete wurde die Veranstaltung vom Landesmusikgymnasium Montabaur mit Melodien jüdischer Komponisten, die ermordet wurden. Seit 26 Jahren erinnert der rheinland-pfälzische Landtag am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Die erste Sondersitzung des Landtags fand 1998 in der damals neu eingerichteten „Gedenkstätte ehemaliges KZ Osthofen“ statt. Damit ist der Landtag Rheinland-Pfalz eines der ersten Landesparlamente in Deutschland, das die Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1996 aufgriffen hatte und den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als Gedenktag begeht.

Quelle: Landtag Rheinland-Pfalz