Erinnern, um eine Wiederholung zu verhindern

Am 10. November 1938 verwüsteten Bad Kreuznacher die Synagoge ihrer jüdischen Mitbürger in der Mühlenstrasse. In den darauffolgenden Monaten und Jahren wurden 230 hier lebende Menschen jüdischen Glaubens inhaftiert und in die Vernichtungslager deportiert. “Der Hass weniger verband sich mit der Gleichgültigkeit vieler und machte den Holocaust erst möglich“, mahnte Valeryan Ryvlin.

Der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Bad Kreuznach/Birkenfeld erinnerte daran, dass die Pogrome vor 80 Jahren seien nicht überraschend gekommen sondern die Folge von Diskriminierung und Ausgrenzung, die in offene Gewalt und in den millionenfachen Mord an unschuldigen Menschen mündete. „Wir müssen wachsam bleiben“, forderte er.

In einer bemerkenswerten Rede (unten zum Nachlesen aus technischen Gründen in 5 PDF gesichert) erinnerte Oberbürgermeisterin Dr. Kaster-Meurer zum Ausdruck an das Unfassbare, dass “auch in unserer Stadt, in den Strassen, durch die wir heute noch gehen, in den Häusern, an denen wir ganz selbstverständlich vorbeischlendern” geschah. “Nie wieder Krieg” forderten SchülerInnen der IGS Sophie Sondhelm, die die Feierstunde am 9.11.18 an der Mahntafel in der Mühlenstrasse zahlreich bereicherten.

Natalia Syrnicka, Michel Eckes und Sven Poth, Schüler der Jahrgangsstufe 13 des Technischen Gymnasiums trugen die Ergebnisse ihrer Recherche im Stadtarchiv vor. Diese belegen, dass auch der evangelische Christ Hermann Schmidt damals vor seinen Mitbürgern floh. Obwohl kein Jude passte er wegen seiner Berufstätigkeit als Juvelier ins Propagandafeindbild der Nazis. Ihr Lehrer Sascha Eske hatte sie zu dem Projekt ermuntert und unterstützt.

Musikalisch umrahmt wurde die Feierstunde von Petra Grumbach (Klarinette) und dem Chor der jüdischen Gemeinde und der Leitung von Tatjana Feigelmann. Zum Abschluss sprach der Kantor der jüdischen Gemeinde, Noam Ostrovsky, das Totengebet El Male Rachamim. “Es ist ein gutes Gefühl, hier mit so vielen Menschen stehen zu können”, formulierte der frühere Kreisvorsitzende der Europa Union Franz-Josef Mathony seinen Eindruck.

Gegen das Vergessen

Vor Jahrzehnten waren es kaum drei Hände voll Aufrechte, die sich am 9.11. zusammenfanden. Am vergangenen Freitag viel viel mehr. Auch einige Kommunalpolitiker wie Steffi Otto und Heike Fessner (Grüne), Peter Grüßner (SPD), Markus Schlosser, Ex-Landrat Klaus Diehl, Ex-Baudezernent Horst Pfeifer, Birgit Ensminger-Busse (alle CDU) und Jürgen Locher (Linke) engagierten sich in der Mühlenstrasse gegen das Vergessen. Die Stadtverwaltung hatte die Veranstaltung gut organisiert und den Verkehr umgeleitet. So wurden auch weniger geschichtsbewusste Zeitgenossen darauf aufmerksam, dass es mehr gibt als Schoppen und Arzttermine.

(Hier die PDFs 9.11.18 Rede 1, 2, 3, 4 und 5 einfügen)

Meinung: ja, das darf man!

Darf man sich mit einem gewissen Abstand nach einer Gedenkveranstaltung, die an Grausamkeiten und abartiges Unrecht erinnerte, auch freuen? Ja, das darf man, wenn so viele EinwohnerInnen zusammenkamen und damit im wahrsten Sinne des Wortes dafür einstanden, dass dieser Tiefpunkt der deutschen aber auch der Bad Kreuznacher Geschichte und seine Hintergründe nicht in Vergessenheit geraten. Ja, das darf man, weil der aussagekräftigste Redebeitrag endlich einmal nicht von den Nachfahren der Opfer und den Bewahrern jüdisch-deutscher Kultur kam, sondern aus dem Mund der Oberbürgermeisterin.

Ja, das darf man, wenn auch so viele kommunalpolitisch Tätige mit ihrer Anwesenheit ein Zeichen setzen für Vielfalt und für das gemeinsame Lösen von Problemen und gegen das Schüren von Hass und Missgunst. Ja, das darf man, wenn sich Dutzende junger Menschen aus ehrlichem Interesse beteiligen und so auch in der nachfolgenden Generation weitergeben, dass kostenloses W-LAN und unbegrenztes Datenvolumen eben nicht alles sind. Und man darf auch mal an einem ganz normalen Tag an der Gedenktafel in der Mühlenstrasse, wenn die Lichter und Kränze längst abgeräumt sind, ein paar Sekunden oder Minuten innehalten und sich bewusst machen, welcher Horror von unschuldigen MitbürgerInnen damals durch Nachbarn und EinwohnerInnen erlitten wurde.