Corona-Spaziergänger: Einigkeit nur noch beim Liedgut

Der Text ist rund 240 Jahre alt. Die Melodie dazu etwa 30 Jahre jünger. Die heute bekannte Fassung stammt von Hoffmann von Fallersleben und wurde 1842 veröffentlicht: “die Gedanken sind frei”. Seit dem macht dieses Lied immer wieder extreme Bedeutungsschwankungen mit. In Zeiten politischer und sozialer Unfreiheit wurde es von Erwachsenen als Kampflied für Freiheit und Bürgerrechte gesungen. Und zwischendrin immer auch mal wieder als Kinderlied intoniert. Historisch belegt ist, dass Sophie Scholl das Lied ihrem von den Nazis inhaftierten Vater vor der Gefängnismauer auf der Flöte vorgespielt hat. Es ist also nicht irgend ein Lied. Es ist ein Teil deutscher Identität.

Immerhin darauf können sich die seit drei Wochen nicht mehr gemeinsam spazierenden Corona-Schutzmaßnahmen-Kritiker noch – absprachelos – verständigen. Und so haben sie auch gestern Nachmittag wieder am Ende ihrer nunmehr getrennten Wege durch die Innenstadt und das Kurgebiet – jede Gruppe für sich – die Gedankenfreiheit besungen. Die einen (mit amtlich abgesegnetem Spazierweg) auf dem Kornmarkt. Die anderen – frei und ohne jede bürokratische Vereinbarung – auf dem Platz vor der Stadtbibliothek. Beide unter Polizeischutz. Der allerdings der Lage angemessen angpaßt war: zwei Polizeibeamtinnen am Kornmarkt, zwei Polizisten an der Stadtbibliothek, verstärkt um einige Personen vom städtischen Vollzug. Und wie seit zwei Monten an beiden Orten durchgängig fröhlich-friedlich.