Notruf aus dem Jugendamt: Kindeswohl gefährdet

Von unserem Redakteur
Claus Jotzo

Mit einem Brandbrief aus dem Jugendamt (im Verwaltungsdeutsch “Überlastungsanzeige”) sehen sich seit Anfang der Woche die Mitglieder des Stadtrates und des Jugendhilfeausschusses konfrontiert. Die Leiterin der Abteilung “Soziale Dienste”, Ingrid Pfeifer-Hoecker, und acht Mitarbeitende erklären in dem nichtöffentlichen Dokument, das dieser Seite in Kopie vorliegt, “im Bereich Allgemeiner Sozialdienst ihren Aufgaben nicht mehr angemessen nachkommen” zu können. Als Grund geben die Anzeigenerstatterinnen Arbeitsüberlastung und Personalausfälle an. Zudem häuften sich mit dem “Ende des Corona-Lockdowns die Kindeswohl­gefährdungsmeldungen”.

Quelle Bild: Fachhoschule Kiel in der Studie über den Fall “Kevin”, in dem bezüglich der Kindeswohlgefährdung über Jahre hinweg falsche Entscheidungen des dort zuständigen Jugendamtes getroffen wurden.

Zurzeit seien “wöchentlich Inobhutnahmen auch nach Dienstschluss vorzunehmen, die von der Polizei gemeldet werden”. Die Feststellung der Jugendamts-Mitarbeitenden dazu: “wir haben hierfür keinen geregelten Bereitschaftsdienst mit entsprechender Vergütung. Die Polizei hat vielmehr eine Telefonliste für Notfälle, auf der zum Teil auch die Privatnummern der Kolleginnen aufgeführt sind”. Das Dokument beinhaltet auch eine Selbstbeschreibung der geforderten Aufgabe: “da das Jugendamt häufig die erste Anlaufstelle für fast alle erzieherischen und sozialen Probleme in unserer Stadt ist, erfordert die Arbeit im Sozialdienst ein hohes Maß an Entscheidungssicherheit, einen guten Umgang mit Ressourcen und – bei zunehmend aggressiverem Klientel – viel Angstfreiheit und Selbstsicherheit gekoppelt mit Empathie und Nachsicht sowie einer hohen psychischen Belastbarkeit”.

Mindestens drei Personen, auf die diese Beschreibung zutrifft, sollen schnellstmöglich bei Jugendamt anfangen: “die zwei Stellen der Mitarbeiterinnen, die uns zum 1.10.20 verlassen, sollen so schnell als möglich – idealer Weise zum 1.8.20 – ersetzt werden, so dass eine kurze Fallübergabe möglich ist. Aufgrund des hohen Fallaufkommens ist es zudem notwendig, eine weitere Stelle einzurichten und zeitnah auszuschreiben, um einen angemessenen Ablauf im ASD bewerkstelligen zu können”. Der Aufruf an die politischen Verantwortungsträger ist unmißverständlich: “wir möchten Sie eindringlich darum bitten, die drei Stellen umgehend zu besetzen, damit wir unserer gesetzlich vorgeschriebenen Garantenpflicht auch künftig nachkommen können und kein Kind zu Schaden kommt”.

“Lehne Verantwortung für Kinderschutzfälle ab”

Und dann legen die Mitarbeitenden dar, welche Folge es haben wird, wenn “es zu keiner Neueinstellung der drei Vollzeitstellen im Allgemeinen Sozialdienst kommen sollte”: “Als Abteilungsleitung lehne ich hiermit die Verantwortung für die Bearbeitung der Kinderschutzfälle ab”, erklärt Ingrid Pfeifer-Hoecker unumwunden. “Eine monetäre Steuerung der Fälle ist unter diesen Umständen ebenfalls nicht möglich. Die verbleibendenden Fachkräfte im ASD können aufgrund des vorliegenden Organisationsversagens ihren Aufgaben nicht mehr angemessen nachkommen. Wir legen die Verantwortung für Kinderschutzfälle und die finanzielle Steuerung der Hilfen zur Erziehung somit in die Hände des Stadtvorstandes”.

Dr. Kaster-Meurer hat die Organisationsverantwortung

Verantwortlich für Organisationsfragen, dass hat die Oberbürgermeisterin durch Stadtrechtsdirektorin Häußermann noch vor wenigen Wochen schriftlich klarstellen lassen, ist Dr. Heike Kaster-Meurer (SPD) höchstpersönlich. Sie selbst ist auch seit vielen Jahren die Jugenddezernentin und Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses, der erst am 9. Juni 2020 tagte (diese Seite berichtete. Damals war weder von “Überlastungsanzeige” noch von “Organisationsversagen” die Rede. Und statt der Besetzung der drei Stellen beim Allgemeinen Sozialdienst wurde im Ausschuß nur eine einzige Stelle (mit der Stimme der OBin) konkret zur schnellstmöglichen Neubesetzung gefordert: die der Leiterin).

Noch am Samstag den 25. Juli 2020 ist auf der Stadtseite Sabine Raab-Zell als Leiterin des Stadtjugendamtes ausgewiesen. Obwohl sie schon am 30. Juni 2020 aus den Diensten der Stadtverwaltung ausgeschieden ist.

Seit dem 1. Juli 2020 ist Dr. Kaster-Meurer auch die Leiterin des Stadtjugendamtes. Den Posten übernahm HKM kommissarisch von Sabine Raab-Zell, die zuvor 20 Jahre lang an der Spitze des Jugendamtes stand und für ihre gute Amtsführung von der Oberbürgermeisterin bei der Verabschiedung sehr gelobt wurde. Diese Seite hat die Fraktionen und politischen Gruppen im Rat der Stadt Bad Kreuznach am Samstagnachmittag um eine Stellungnahme gebeten. Die erste Antwort erreichte uns ausgerechnet von einem Urlauber: Lothar Bastian (Grüne), der sich in der Pfalz aufhält. Seine sehr sachbezogenen Hinweise auf fachliche und organisatorische Zuständig- und Verantwortlichkeiten werden wir in einem gesonderten Beitrag darstellen.

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10.06.20 – “Jugendhilfeausschuß beschließt Ausschreibung der Amtsleitung Jugendamt”