Zu viele machen es falsch: so kommt die Ausgangssperre

Von unserem Redakteur
Claus Jotzo

Ja, das stimmt: es sind mehr jüngere als ältere Einwohner*Innen, die sich falsch verhalten. Aber wenn die Oma tatsächlich nichts besseres zu tun weiß, als sich drei Tage nach unmißverständlichen Warnhinweisen mit den Enkelkindern gestern Nachmittag zum Eisessen in die Innenstadt zu begeben, sagt das einiges aus. Wie will man angesichts derartiger “Vorbilder” von verantwortungsloser Rücksichtslosigkeit bei Senioren pubertierenden Jugendlichen ihre Corona-Partys vorwerfen? Der aktuelle Appell der zuständigen Kreisverwaltung vom gestrigen Nachmittag klingt daher schon ein wenig nach Resignation:

Händchenhaltende Paare, Freundinnen beim Feierabendtratsch, Nachwuchsmänner beim Austausch von Anmachtipps und Großeltern, die die Enkelkinderbetreuung in die Fußgängerzone verlagert haben: selbst die Polizeistreife kam gestern nur mühsam durch.

“Bleibt daheim! Noch immer haben es nicht alle verstanden: Schulausfälle und Geschäftsschließungen kommen nicht von ungefähr. Es muss erreicht werden, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus gebremst wird, um Menschenleben zu schützen. Also: bleibt daheim wo möglich – egal wie alt ihr seid”. Landes- und die Bundesregierung sagen es unverblümt: “wenn die bisherigen Maßnahmen nicht greifen, müssen härtere Maßnahmen ergriffen werden. Ausgangssperren”. Derartige Aufrufe verhallen bisher teilweise ungehört. Denn wie unzählige Bilder, die wir gestern im Stadtgebiet aufgenommen haben und die wir aus verschiedenen Gründen hier gar nicht zeigen, beweisen: es sind eben nicht Arbeitskräfte auf dem Heimweg, die Gassen, Strassen, Plätze und Grünanlagen füllen.

Wer dieses unser Foto von gestern gegen 17 Uhr mit dem von vorgestern vergleicht, wird feststellen: wesentlich weniger Menschen waren in der Mannheimer Strasse leider nicht unterwegs. Und natürlich sind dies Passanten – und keine Arbeitnehmer auf dem Heimweg.

Es sind klar überwiegend Freizeitpassanten, die sich in der Innenstadt und im Stadtgrün tummeln. Natürlich kann man sich über die Gründe dazu Gedanken machen. Selbstverständlich stellt es sich jetzt in der Krise als falsch heraus, dass die Einhaltung von Regeln nicht eingeübt wurde. Nachvollziehbar, dass kommunale Kontrollkräfte, die jahrelang an Falschparkern, illegalen Müllentsorgern und nächtlichen Krawallen aus Autoradios tatenlos vorbeigelaufen sind, heute leider nicht ernst genommen werden. Auch die traurige Tatsache, dass kaum eine Einwohnerin von den fantastischen rechtlichen Möglichkeiten der Mitarbeit am kommunalpolitischen Leben Gebrauch gemacht hat, wirkt sich jetzt nachteilig aus:

Von Andreas Schnorrenberger stammt diese informative Collage. So etwas sollte seit Wochen das Logo der Stadt sein. Die kümmert sich statt dessen um zwei Pächterinnen. Und erläßt diesen zu Lasten der Allgemeinheit die Miete (siehe gesonderter Bericht auf dieser Seite).

Die Menschen sind sehr schlecht über formale Details informiert und kennen weder Regeln noch Zuständigkeiten. Es ist also eine Mischung aus Dummheit, politischem Versagen und den Folgen der Bürger*Innen-Bequemlichkeit, die dem Gesamtsystem heute vermeidbare Belastungen zumutet. Und die Anordnung von Ausgangssperren wahrscheinlich macht. Interessant wird sein, wie sich die Menschen verhalten, wenn die Krise – wann auch immer – bewältigt ist. Werden jene, die das Versagen in Staat und Gesellschaft heute erkennen und kritisieren, dann endlich aus der privaten Wohlfühlzone treten, Gleichgesinnte suchen und gesellschaftliches Engagement nicht mehr nur den Friedens- und Umweltbewegten überlassen?

Auf dem Kornmarkt und anderen Plätzen und Grünflächen wurde in kleineren und größeren Gruppen – ohne Sicherheitsabstand und Schutzmaßnahmen – geklönt, geflirtet und gelacht. So als ob das Virus nur ein Werbegag eines Hausschuhherstellers wäre.

Und damit eine heute noch vollkommen unbekannte neue soziale und politische Größe erschaffen? So könnte der Virus zum Spiritus Rector einer überfälligen, tiefgreifenden gesellschaftlichen Reform werden. Was Verschwörungstheoretikern einen Hinweis auf den Ursprung des Virus geben könnte. Bisher stehen in deren Kreisen Überbevölkerungsgegner, Biowaffenfreunde, Fußballfeinde und religiöse Fanatiker ganz hoch auf der Liste der üblichen Verdächtigen. Vielleicht sollte man eher nach Sozial- oder Politikwissenschaftlern suchen, die kürzlich im Nebenberuf als Virologen beruflich reüssierten.

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19.03.20 – “Sieht so Kontaktreduzierung aus?”
17.03.20 – “Kreis verbietet “völlig unabhängig der Personenzahl” alle Menschenansammlungen”