Valeryan Ryvlin: “die Macht der Erinnerung ist stark”

Am 5. Februar wurden in Bad Kreuznach die ersten Stolpersteine verlegt. Vor den Häusern Hochstrasse 38 und Römerstrasse 2. Kleine aber sichtbare Wegmarken gegen das Vergessen und das Verdrängen. Erinnerungsfanale daran, dass auch in Bad Kreuznach Nachbarn Nachbarn denunziert, beraubt, mißhandelt und in die Todeslager gebracht haben. Über die Verlegung der Stolpersteine hatte diese Seite bereits berichtet. Am Abend zuvor fand in der Sysnagoge in der Alzeyer Strasse eine Abendveranstaltung statt (unsere Bilder zeigen einzelne Programmpunkte). Valeryan Ryvlin, der Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Bad Kreuznach-Birkenfeld hat der Redaktion dieser Seite seine Begrüßungsrede zur Verfügung gestellt, die wir nachstehend mit seiner freundlichen Genehmigung wiedergeben:

“Guten Abend und einem Schalom darf ich Sie alle herzlich willkommen heißen, zu dieser kleinen Abendveranstaltung zur Gedenkfeier anlässlich der erstmaligen Verlegung von Stolpersteinen in Bad Kreuznach für jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Heute am 4. Februar 2020, heute am 9. Sh`vat des Jahres 5780, wenn wir den Tag mit der jüdischen Datierung benennen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, ich begrüße Sie zu der ersten Stolpersteinverlegung. Dieses Ereignis ist deshalb so bedeutend, weil mit den Stolpersteinen die Erinnerungskultur eine ganz neue Qualität bekommt. Anders als bei anderen Denkmälern oder Gedenktafeln, die natürlich auch ihren Sinn haben, begegnet man den Stolpersteinen im täglichen Leben, oft unverhofft und als Einzelner und das ganze Jahr über.

Sie sind da, wo die Menschen jeden Tag einhergehen und meistens mitten in der Stadt. Die Stolpersteine sind da, wo die Menschen leben und wo die Opfer, an die gedacht werden soll, gelebt haben. Sie sind auf diese Weise wieder mitten unter uns. Für diese Erinnerungskultur haben wir dem Künstler Gunter Demnig zu danken. Er hat 1997 dieses Projekt in Köln begonnen und es nimmt als wachsendes Kunstwerk bis heute eine unglaubliche Entwicklung. Seit dieser Zeit sind in 1265 Orten Deutschlands und im europäischen Ausland über 70.000 Stolpersteine verlegt worden. Wir freuen uns sehr, dass wir ihn morgen persönlich begrüßen können.

Sein großes persönliches Engagement zeigt sich auch daran, dass er die Stolpersteine – oft an sechs Tagen in der Woche – selbst verlegt. Bei den Stolpersteinen geht es um Erinnerung. Die Menschen, deren Familien unter der Naziherrschaft oft auseinander gerissen und zu Nummern degradiert wurden, werden so an ihrem letzten frei gewählten Wohnsitz wieder zusammengeführt und bekommen ihre Namen zurück. Erinnerung hat aber auch eine Zukunftsdimension. Erinnerung soll uns wachsam halten, dass Ähnliches nie wieder passieren kann. Das ist auch Aufgabe des Geschichtsunterrichts in den Schulen. Die Stolpersteine sind dafür besonders gut geeignet, weil Geschichte nur wirklich erfahrbar werden kann, wenn sie auf konkrete einzelne Personen bezogen ist und ortsbezogen vermittelt werden kann.

Wir freuen uns daher sehr, dass das Projekt Erinnerungskultur-Stolpersteine von allen Schulen unserer Region so positiv aufgenommen worden ist. Für Freiheit und Würde jedes Einzelnen einzutreten, ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft und aller gesellschaftlichen Gruppen. Daher sind wir sehr erfreut, dass wir so viele wichtige Vertreter des öffentlichen Lebens und Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen hier begrüßen können. Wir bedanken uns bei allen insbesondere bei der IGS Sophie Sondhelm und dem Lina-Hilger-Gymnasiums Bad Kreuznach, die an der Vorbereitung der heutigen Verlegung mitgewirkt haben und noch mitwirken. Und nun wird es höchste Zeit, dass wir unsere heute sicher wichtigsten Gäste begrüßen.

Die Nachkommen von Familie Baruch, Frau Kerstin Bembenek-Zehmer, leider konnte Sie heute Abend nicht anwesend sein, aber morgen können wir sie begrüßen. Aber die Nachkommen von Auguste Oppenheimer, Frau Gina Burgess-Winning, darf ich ganz herzlich willkommen heißen. Es ist uns eine große Ehre, dass sie gekommen sind. Wir können damit gewiss sein, dass die Stolpersteine auch für Sie ein wichtiges Monument der Erinnerung und der Verbindung zur alten Heimat Ihrer Vorfahren ist. Wir möchten, dass Sie sich in Vertretung Ihrer Vorfahren in Bad Kreuznach wieder aufgenommen fühlen. Gedenkstätten, wie ein Stolperstein, sollen helfen, Menschen auch in künftigen Generationen dazu zu bringen, dass solche schreckliche Ereignisse durch ihr Handeln und Denken verhindert werden.

Diese Stolpersteine mahnen uns, die Menschen, denen sie gelten, und ihre Schicksale immer wieder ins Gedächtnis zu rufen; sie erinnern uns daran, daß wir selbst für unsere Zukunft verantwortlich sind. Die Macht der Erinnerung ist stark! Auch Stolpersteine sind Erinnerungszeichen, auch sie verbinden persönlich-familiäres, von welchem Name, Geburtstag, Deportations- und Todesdatum überwiegend privater Personen Zeugnis geben, mit der allgemeinen Sphäre der Öffentlichkeit. „Veröffentlicht“ auf den Gehwegen, kann man über die Steine hinweggehen, sie übergehen, aber auch stehenbleiben, verweilen, zu fragen beginnen, staunen und traurig sein: „Schau `mal, hier haben Personen gelebt, die alle nach Maidanek verschleppt wurden und deren Spur sich dort verliert… ich wußte ja gar nicht, dass hier auch Juden wohnten“.

Wir alle stehen in der Verantwortung, dass Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung von Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer politischen Ansichten, ihrer sexuellen Orientierung nie wieder vorkommen darf. Und gerade deshalb freue ich mich sehr über die Anwesenheit der Bad Kreuznacher Schülerinnen und Schüler. Denn diese Generation muss diese schwere Aufgabe meistern. Unterstützen wir diese Generation und stehen gemeinsam gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und gegen Ausgrenzung und erhoffen uns dadurch, dass das Geschehene nie wieder vorkommen wird. Bad Kreuznach ist und, hoffe ich, bleibt eine offene, liberale und gastfreundliche Stadt, in der Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen ihren Platz haben und zusammenleben können.

Das kann nur fortbestehen, wenn sich vor allem die jungen Menschen mit verschiedenem kulturellem und religiösem Hintergrund kennen lernen, sich gemeinsam mit der Vergangenheit auseinandersetzen und gemeinsam Zukunft suchen. Wir können uns nur mit der Vergangenheit auseinandersetzen, wenn wir sie auch kennen. Immer noch wissen nicht jüdische Bürgerinnen und Bürger viel zu wenig über den jüdischen Glauben, die Traditionen und jüdischen Wurzeln hier in Bad Kreuznach. Nehmen wir den heutigen Tag auch als Anstoß, mehr zu erfahren über die reiche jüdische Tradition und über das moderne jüdische Leben in Deutschland und bei uns in Rheinland-Pfalz. Aktives jüdisches Leben in Bad Kreuznach ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer toleranten und weltoffenen Stadtgesellschaft.

Das Verbindende suchen

Das setzt die Bereitschaft zur guten Nachbarschaft und zum Miteinander von uns allen voraus, die sich im Alltag bewähren muss. Das heißt, nicht das Trennende, sondern das Verbindende zu suchen. Was wir brauchen, außer der Kultur der Erinnerung, ist eine „streitbare Toleranz“. Eine Toleranz, die nicht zu verwechseln ist mit Feigheit, Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit. Toleranz kann sich nur in Freiheit entfalten. Und sie ist – wie die Freiheit – ein sehr sensibles, kostbares und zerbrechliches Gut, das man mit großer Achtsamkeit hüten muss. Die Macht der Erinnerung ist stark! Wie wir mit ihr umgehen, liegt an uns! Wir erinnern uns an unseren Toten und denken an die Lebenden und sagen Lechaim für das Leben. Schalom und Friede für uns alle. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!”

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06.02.20 – “Stolpersteine für Baruch und Oppenheimer gegen das Vergessen”
02.02.20 – “Stolpersteine werden am 5. Februar verlegt”
28.01.20 – “Schülerinnen tragen zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus bei”
06.09.19 – “Stolpersteine werden nicht nur für jüdische Nazi-Opfer verlegt”
21.08.19 – “Stolpersteine bald auch in Bad Kreuznach?”