Herrenanzüge nach Maß: alle reden von Digitalisierung – Mike Mattern praktiziert sie

Von unserem Redakteur
Claus Jotzo

Früher war Anzug kaufen ganz einfach. Solange er dem oder der gefiel, die bezahlte, passte er immer perfekt. Also unter den damaligen Bedingungen: entweder war man(n) zu dick. Und mußte fürs Tragen eben abnehmen. Oder es hieß: “da wächst Du rein”. Und auch der saloppe Hinweis, “dann sieht es wenigstens so aus, als hättest Du abgenommen”, wurde gern gegeben. Der Anzug war fix. Die Variable war der Kerl. Heute hat man(n) es nicht mehr so “leicht”. Modevorgaben gibt es jetzt auch ausserhalb von Großstädten in maskulin. Und natürlich die Digitalisierung. Die hat das Anzugkaufen revolutioniert. Zumindest in Bad Kreuznach. Im Geschäft von Mike Mattern (Mannheimer Strasse 100).

Mußte man früher für bezahlbare maßgeschneiderte Anzüge nach Fernostasien fliegen (was Reklamationen nicht unerheblich erschwert hat), macht Mike Mattern individuell angepaßtes Tuch vor Ort möglich. Gestützt auf digitale Datenverarbeitung. Die trägt – da bleibt dann doch einiges beim Alten – wieder weibliche Züge. Denn wie bei Damen über 40 es geht es beim postmodernen Anzugkauf überwiegend um Falten. Um das zu verstehen haben wir einen Kunden begleitet. Wie man(n) das von jeher kennt, werden zunächst Hose und Sakko angezogen. Diese Teile können allerdings nicht erworben werden. Es handelt sich um die sogenannte Schlupfgröße, einen Mustermaßanzug. Die einfachen Veränderungen wie Ärmellänge, Brust- und Taillenweite sowie die Gesamtsakkolänge werden mit Nadeln abgesteckt.

Mustermaßanzug fürs Tragegefühl

Aber – anders als bisher – geschieht dies nicht für die Näherin. Sondern allein für das Tragegefühl des Kunden in seinen neuen Anzug. Tatsächlich wird die Herstellung des neuen Teiles durch das Abstecken der Differenzmaße nur vorbereitet. Nun folgt ein vollkommen neuer Arbeitsschritt: der Kunde wird jetzt in seinem abgesteckten Mustermaßanzug fotografiert. “Im zweiten Schritt schauen wir auf sehr individuelle Körperbeschaffenheiten wie unterschiedliche Schulterhöhen und nach vorn gebeugte oder geneigte Haltung (Soldatenhaltung)”, erklärt Mike Mattern. Auf diese Details zu achten ist wichtig. Denn die werfen auf dem Sakko oder der Hose Falten auf. Die fachliche Herausforderung ist: “diese so weit wie es geht weg zu bekommen”.

Unikat für einen einzigen Anzugträger

Ganz maßgeblich dafür ist es, den Verlauf der einzelnen Falten zu erkennen. Zu diesem Zweck werden die mit der Digitalkamera aufgenommenen Bilder grafisch aufbereitet, um die Kontraste stärker herauszuarbeiten und die Stoff-Falten somit besser erkennen zu können. Innerhalb des “Suit Finish” werden die letzten Schnittmaßänderungen festgelegt aufgrund der ermittelten individuellen körperlichen Beschaffenheiten. Dabei kann es vorkommen, dass im Team mit Schneidern und Designern beraten wird via Telefonkonferenz auf Basis der Bilder, die allen Beteiligten innerhalb einer Dropbox zur Verfügung gestellt werden. “So können wir weit über unsere Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten und das Produkt perfektionieren”. Und es entsteht ein Unikat ausschließlich für diesen einen Anzugträger.

Papierschnitt aus 92 Teilen

Letztlich wird das zukünftige Bekleidungsstück über seine einzelnen Bestandteile der Stoffe, Nähte, Schnitte, Ausstattung und Maße konfiguriert. Diese Konfiguration wird vom Produktionsleiter und seinem Team auf Machbarkeit überprüft und im Regelfall für den anschließenden Nähprozess freigegeben. Die Daten werden dann in die Produktionsstätte gesendet und dort weiter verarbeitet. Als erstes wird dann ein Papierschnitt aller einzelnen Bestandteile eines Sakkos und der passenden Hose erstellt. Das sind 64 Teile für das Sakko und 28 Teile für die Hose. Anhand dieses Papierschnittes wird das angestrebte Endprodukt vor den ersten Verarbeitungsschritten auf Besonderheiten beurteilt.

Preis hängt vom Stoff ab

Zuletzt werden die Stoffe hinzugenommen. Das Wunschergebnis ist dann später ein faltenfreier Anzug. Passend bis Konfektionsgrösse 64. Und der kostet bei weitem nicht so viel, wie der beschriebene Produktionsprozess das vermuten läßt. Erstaunlich ist: trotz der umfassenden Dienstleistung hängt der Preis zu über 50% vom Stoff ab. Dabei sind alle Materialqualitäten verfügbar. Wählt der Kunde ein einfaches Mischgewebe kostet der Anzug zwischen 249 Euro und 299 Euro. “Bei einem schönen Schurwollstoff zwischen 499 Euro und 599 Euro”. Und dann ist da auch die Kaschmir-Variante Scabal möglich. Für bis zu 4.500 Euro.