Amtsgericht wirft Stadt “offensichtlich ungenügende Aufklärung des Sachverhaltes” vor

Woche für Woche hatten im Winter 2021/2022 sogenannte Spaziergänger*Innen öffentliche Ge- und Verbote ignoriert. Und am Ende sogar entgegen einer entsprechenden Allgemeinverfügung ihre abendlichen Freiluftveranstaltungen fortgesetzt. Am 24. Januar 2022 schlug die Stadtmacht dann zurück. In enger Absprache mit der Stadtverwaltung bereitete sich die Polizei “auf die Missachtung der Verbotsverfügung vor”. Mit einer überörtlich zusammengezogenen, dreistelligen Zahl von Kräften und mehreren Dutzend Einsatzfahrzeugen wurde zunächst der Großraum Salinenplatz, Salinenstrasse, Wormser Strasse, Wassersümpchen und Baumgartenstrasse abgesichert. Und dann in der mittleren Mannheimer Strasse ein “Käfig” aus Beamt*Innen aufgestellt.

Originalbild vom Polizeieinsatz am 24. Januar 2022.

Zweck des Einsatz war es, einen Teil der Spaziergänger*Innen zu erfassen und deren Personalien zu ermitteln (diese Seite berichtete). Anschließend wurden von der Stadtverwaltung gegen mehrere Dutzend Personen “Ermittlungsverfahren wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und die 29. CoBeLVO geprüft und eingeleitet”. Gegen die danach verhängten Bußgeldbescheide über 500 Euro legten viele der Betroffenen Widerspruch ein. Dadurch wurden Verfahren beim Amtsgericht Bad Kreuznach anhängig. Bis zum Dienstag vergangener Woche. Denn am 11. Oktober 2022 erließ das Gericht einen Beschluß. Dessen Tenor stellt eine krachende juristische Ohrfeige für die Stadtverwaltung dar.

“Das Verfahren wird gemäß § 69 Abs. 5 OWiG wegen offensichtlich ungenügender Aufklärung des Sachverhaltes an die Bußgeldstelle der Stadtverwaltung Bad Kreuznach zurückverwiesen”. In der Begründung führt das Gericht aus: “die Teilnehmereigenschaft des Betroffenen an der Versammlung am 24.1.2022 steht derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit fest. Allein der Umstand, dass sich der Betroffene an einer Umschließung am geöffneten REWE-Supermarkt befand, dürfte für eine positive Feststellung der Versammlungsteilnehmerschaft nicht ausreichend sein, zumal sich in der Umschließung auch weitere Personen befanden, welche von der Polizei als Versammlungsteilnehmer ausgeschlossen wurden.

Es wäre ggf. durch zeugenschaftlichen Beweis zu ermitteln, ob sich der Betroffene bereits in der sich dynamisch durch die Stadt bewegenden Versammlung befand, um ein zufälliges “Hineingeraten” ausschließen zu können”. Dieser gerichtliche Paukenschlag wirft in mehrfacher Hinsicht Fragen auf. Vor allem die nach der Kompetenz, mit der bei der Stadtverwaltung gearbeitet wird. Die Vor- und Nacharbeit allein dieses Einsatzes hat die Steuerzahler*Innen zehntausende von Euro gekostet. Zusammen viele hundert Arbeitstunden wurden dafür verwendet. Einsatzzeit etwa des städtischen Vollzuges, über die sich die an Nachtruhe und Sauberkeit interessierten Einwohner*Innen für ihre Anliegen sehr gefreut hätten. Statt dessen werden Zeit und Geld für eine Aktion verplempert, die einer gerichtlichen Prüfung nicht standhält.

Ohrfeige für die Stadtverwaltung
Die Meinung unseres Redakteurs
Claus Jotzo

Ja. Vieles, was bei den Spaziergängen gesagt wurde, war eine Zumutung. Nicht nur die strafrechtlich relevanten Drohungen und Beleidigungen, die einzelne Spaziergänger gegen mich persönlich ausgesprochen haben. Nur weil ich Bilder gemacht und Fakten berichtet habe. Davor wurde ich allerdings weder von der Polizei noch vom städtischen Vollzug geschützt. Das muß man als aktiver Demokrat in dieser Stadt selbst erledigen. Diese Negativerlebnisse wurden subjektiv durch ernsthafte Gespräche mit tatsächlich besorgten und verunsicherten, oft unzureichend informierten und / oder von tatsächlichen staatlichen Fehlleistungen frustrierten Mitgänger*Innen überkompensiert.

Ja. Es fanden Hetze und Verleumdung statt. Aber viele, mit denen ich gesprochen habe, sind dem nur deshalb auf den Leim gegangen, weil sie aus vielen unterschiedlichen Gründen den Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft eingebüßt haben. Weil sie sich nachvollziehbar nicht mehr als Gesprächspartner*Innen, sondern Befehlsempfänger*Innen empfunden haben. Eine dieser Personen hat mir als Grund für ihre Zweifel an der Gesellschaft benannt: “für alle Rand- und Problemgruppen gibt es Aufmerksamkeit. Ob Obdachlose oder Flüchtlinge: die werden aufgesucht, für die gibt es Angebote. Mich hat noch nie jemand angesprochen.

Ich habe immer nur funktioniert, gearbeitet und bezahlt”. Wo wurde in Bad Kreuznach der Versuch unternommen, diese gesellschaftlichen Fragestellungen aufzuarbeiten? Wo haben die Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft die Spaziergänger*Innen im Gespräch gestellt? Fast alle Politiker*Innen haben es sich daheim auf dem Sofa bequem gemacht. Und die Strasse den anderen überlassen. Von dort gibt es nicht nur Schlechtes zu berichten. So ging bei den Bad Kreuznacher Spaziergängen nicht ein einziges Schaufenster zu Bruch. Das erledigen bei uns besoffene Idioten. Kein Beamter wurde verletzt.

Solange sich die Ordnungsmacht nicht einmischte, spielten sich die intensivsten Konflikte rein verbal zwischen den Spaziergänger*Innen und jenen Bürger*Innen ab, die Einsicht in die Notwendigkeit der Coronaschutzmaßnahmen – trotz der unzähligen Pleiten und Pannen der Verantwortlichen bzw Regierenden – zeigten. Welche Maßnahmen waren angesichts dieser Fakten verhältnismäßig? Laut Ordnungsdezernent Markus Schlosser auch ein “Kessel”. Daher nahm die Stadtverwaltung am Abend des 24. Januar 2022 die Hilfe einer größeren Zahl von Polizeikräften in Anspruch. Die ließ mehrere Dutzend Menschen in der mittleren Mannheimer Strasse im Bereich zwischen der Baumgartenstrasse und der Einmündung Wassersümpfchen festhalten.

Die Personalien dieser Personen wurden festgestellt. Auch hier bemerkenwert: anders als bei Verkehrskontrollen, bei denen in schöner Regelmäßigkeit Haftbefehle vollstreckt werden können, gabs diesbezüglich keine Ermittlungserfolge. Da waren also, egal ob man das jetzt negativ oder positiv bewerten möchte, ganz normale Einwohner*Innen unterwegs. Die alle nach hause gehen durften, nachdem sie sich ausgewiesen hatten. Ein großer Teil davon bekam anschließend Post von der Stadtverwaltung. Ordnungswidrigkeitsanzeigen wegen Verstosses gegen das Versammlungsgesetz. In vielen Fällen legten Betroffene Widerspruch ein.

Weshalb diese Vorgänge beim Amtsgericht landeten. Dessen bemerkenswerter Beschluß vom 11. Oktober 2022 legt offen, was die Redaktion dieser Seite seit Jahren mit vielfältigen Beispielen belegt: die schlampige Arbeit der zuständigen Abteilungen des städtischen Ordnungsamtes. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn das Amtsgericht feststellt, dass “Verfahren wegen offensichtlich ungenügender Aufklärung des Sachverhaltes an die Bußgeldstelle der Stadtverwaltung Bad Kreuznach zurückverwiesen” werden. Eine krachende Ohrfeige für Dummtun im Amt. Denn es war ja die Stadtverwaltung, die den rechtswidrigen Spaziergänger*Innen die Falle stellte.

Und alle Zeit der Welt und alle Mittel hatte, diese so vorzubereiten, dass gerichtsfeste Ergebnisse erzielt werden konnten. Aber wie bei vielen anderen Aufgaben (Kontrolle Geh- und Radwegparker, Durchsetzung Nachtruhe, Kontrolle illegale Müllablagerungen) wurde wieder einmal gestümpert. Erfreulich ist, dass sich das Gericht sachlich mit den vorgelegten Beweismitteln auseinander gesetzt und deren Mängel schonungslos analysiert hat. Das Triumphgeheule einzelner Spaziergänger*Innen wird schnell wieder verhallen. Was von diesem Beschluß bleibt, ist der Sieg des Rechtsstaates einerseits über unfähige Verwaltungsmitarbeitende. Letztere kann man austauschen.

Wie auch die Kommunalpolitker*Innen, die diese Leistungsverweigerer und Versager auf Posten und in Ämter gebracht haben. Oder sogar jetzt noch schützen. Andererseits der Sieg des Rechtsstaates über die Lügen und Propaganda seiner Kritiker*Innen. Das Bad Kreuznacher Amtsgericht hat sich nicht auf das Niveau des ein oder anderen Spazierenden herabbegeben. Es hat einfach seine Arbeit gemacht. Unparteiisch. Unabhängig. Und damit den Spaziergänger*Innen klar gesagt: auch wenn ihr euch aus der Gesellschaft herausgedrängt seht, gehört ihr dazu. Es ist das Recht, das auch euch schützt, das ihr beschädigt. Vielleicht kann jetzt der ein oder die andere anerkennen, dass dieser Staat so böse, wie er von einigen Spaziergänger*Innen hingestellt wird, gar nicht ist.

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26.01.22 – “Polizei kontrolliert “Missachtung der Verbotsverfügung”
24.01.22 – “Aufgespiesst: Verwechslung von Pudelmützen und Aluhüten löst Polizeigroßeinsatz aus”