Bauprojekt Lebenshilfe: der Hochwasserschutz geht dem Planungsrecht vor

Von Claus Jotzo

Ob das der Lebenshilfe und den Hausbesitzern nördlich der Strasse Agnesienberg gefällt oder nicht: ihre Immobilien liegen im historischen Überschwemmungsgebiet des Ellerbaches. Und hätten nie gebaut werden dürfen. Die beiden Bad Kreuznacher „Jahrhunderthochwässer“ innerhalb von 13 Monaten (Dezember 1993 und Januar 1995) haben die Gefahr am Ellerbach nur angedeutet. Wie gefährlich das in trockenen Sommerwochen kaum 30 Zentimeter flache Gewässer tatsächlich ist, hat nicht nur das schlimmste dokumentierte Hochwasser der Stadtgeschichte am 12.5.1725 gezeigt. Auch in der Neuzeit stieg der Ellerbach gefährlich an.

Welche Materialmengen der Ellerbach mitführt und wie sich diese ablagern und schnell zu gefährlichen Aufstauungen führen können, wurde erst Mitte Januar 2025 wieder einmal augenfällig.

Die Hochwasservorhersagezentrale Rheinland-Pfalz hat diese Ereignisse der jüngeren Zeit festgehalten. Wie für alle anderen Pegel auch, sind die höchsten zehn Stände öffentlich einsehbar angegeben. Für den der Nahe in Bad Kreuznach sind diese auf 32 Jahre verteilt. Und liegen in der Zeitspanne vom 21.12.1993 bis heute. Die zehn Topwerte des Ellerbaches fallen in nur 14 Jahre (seit dem 8.1.2011). Schon diese Tatsache sollte zu denken geben. Zwei stechen besonders heraus: die vom 30.5. und 2.6.2016. Mit 2,24 Meter bzw 2,20 Meter sind es die höchsten angegebenen Werte. Zum Vergleich: der zehnthöchste Wert liegt bei nur 1,37 Meter.

Der Beweis dafür, dass an Ellerbach (oben) und Nahe (unten) oft an unterschiedlichen Tagen Hochwasserereignisse auftreten. Quelle: Hochwasservorhersagezentrale Rheinland-Pfalz 2025

Der daran bemerkenswerteste Fakt aber ist: für den 30.5. und 2.6.2016 gibt es in der Top-10-Liste für den Nahepegel keinen Eintrag. Umgekehrt sind für jene Tage, an denen die Nahe Hochwasser führte, für den Ellerbach keine Spitzenwerte eingetragen. Was bedeutet: die beiden höchsten Stände am Ellerbach wurden ganz unabhängig von Wetterlagen bewirkt, die die Nahe anschwellen ließen. Und: die Einzugsgebiete von zwei der drei der für Bad Kreuznach relevanten Gewässer sind weitgehend unabhängig von einander. Die nicht von der Nahe, sondern allein vom Ellerbach bewirkte Katastrophe vor fast genau 300 Jahren zeigt das Schadenpotential brutal auf.

Das heutzutage wesentlich höher einzustufen ist. Diese unerfreuliche Tatsache wird durch die über viele Jahre vorbereiteten wissenschaftlichen Untersuchungen zu Starkregen- und Hochwasserereignissen belegt. Deren Ergebnisse sind seit Ende 2023 öffentlich einzusehen. Und lassen sich in einem Satz zusammenfassen: die Klimaveränderung hat dazu geführt, dass gefährliche Wasserstände höher ausfallen und häufiger erreicht werden. Das nächste „Jahrhunderthochwasser“ am Ellerbach ist also nur eine Frage der Zeit. Darauf sind weder die Hausbesitzer noch die Stadt hinreichend vorbereitet. Trotzdem wird aktuell über Neubauten diskutiert.

Statt endlich Maßnahmen in Angriff zu nehmen, mit denen das, was heute an Bausubstanz bereits vorhanden ist, effektiv geschützt wird. Gegen das Neubauvorhaben der Lebenshilfe im Agnesienberg spricht aber auch die bereits geltende Gesetzeslage. Die seit dem Elbhochwasser 2002 der Aufgabe angemessen deutlich verschärft wurde. Zuletzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 30. Juni 2017. Damit möchte der Bund die Hochwasservorsorge in Hochwasser-Risikogebieten verbessern. Ausdrücklich angesprochen sind Flächen, die im Falle eines Deichbruchs überflutet werden können. Genau diese Lage ist am Ellerbach gegeben.

In den Stadtakten ist u.a. in der Beschlussvorlage vom 26.11.2018 mit der Drucksachennummer 18/403-1 (16/365) wörtlich festgehalten: „Hinsichtlich des Hochwasserschutzes stellt die untere Wasserbehörde fest, dass der bestehende Deich lediglich den Schutz bezogen auf eine landwirtschaftliche Fläche erfüllt und technisch veraltet ist“. Das ist seit der Arbeit der Hochwasser AG Ende der neunziger Jahre, also seit über 30 Jahren (!), amtsbekannt. Was für die Nordseite des Ellerbaches gilt, trifft auch für die Südseite zu. Trotzdem gibt es bis heute kein Investitionsprojekt, mit dem Menschen und Häuser geschützt werden.

Wie wenig die Stadtverwaltung im Thema ist, macht auch der Entwurf zur ersten Änderung des Bebauungsplanes „Zwischen Ellerbach und Agnesienberg, An der Schleifmühle“ (Nr. 13/6)“ deutlich. Der soll das Neubauprojekt der Lebenshilfe im Überschwemmungsgebiet des Ellerbaches erleichtern. Greift aber mit keinem Wort inhaltlich die vor acht Jahren bundesgesetzlich neu eingeräumten Möglichkeiten zum „hochwasserangepassten Bauen“ auf. Auch die Verpflichtungen der Stadt aus dem Wasserhaushaltsgesetz (WHG) werden in der Beschlussvorlage nicht einmal angedeutet. Dabei beschreibt § 76 WHG genau den Ellerbachfall: ein Überschwemmungsgebiet.

Als solche sind im WHG jene Flächen angesprochen, die zwischen oberirdischen Gewässern und Deichen oder Hochufern liegen. UND solche, die bei Hochwasser überschwemmt ODER für die Hochwasserentlastung oder Rückhaltung beansprucht werden. Die statistische Wahrscheinlichkeit für ein solches Hochwasserereignis muss diesbezüglich bei „einmal in 100 Jahren“ liegen. Das ist laut den im Herbst 2023 von der Landesregierung veröffentlichten amtlichen Starkregen- und Hochwasserkarten am Ellerbach der Fall. Die von der Stadtverwaltung betriebene Bebauungsplanänderung verstößt konkret auch gegen das Baugesetzbuch (BauGB) in Verbindung mit dem Hochwasserschutzgesetz und dem WHG.

Demnach ist die Zulässigkeit der Bauleitplanung in den Hochwasserschutzgebieten deutlich eingeschränkt: „Hochwasserschutz geht dem Planungsrecht vor“. Demnach bedarf auch die Erweiterung einer baulichen Anlage nach BauGB in einem Überschwemmungsgebiet eine Genehmigung durch die zuständige Behörde. Diese darf nur dann erteilt werden, „wenn im Einzelfall das Vorhaben die Hochwasserrückhaltung nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt“. Wer unterstellt, dass fünf zusammen hunderte Quadratmeter große Baukörper das nicht bewirken, glaubt auch, dass Bauleiter Baue leiten und Zitronenfalter Zitronen falten.